HINTER DEN ZÄUNEN
Zäune waren die Hauptdekoration meiner Kindheit. In unserer Stadt waren sie ein gleichberechtigter Teil der Landschaft wie der Himmel, der Fluß, wie Unkraut oder Brennesseln. Ein paar gepflegte Grasplätzchen in der Stadtmitte schauten wie törichte Fremdlinge aus. Es standen zudem kleine Schilder darauf ”Den Rasen nicht betreten” und das wirkte wie ”Vorsicht, bissiger Hund!”
Alle Zäune waren schief und erstaunlich langlebig. Gehen in unserer Stadt hieß klettern über oder hindurch.. So mußte ich, bevor ich im Hof der Schule angelangt war, durch fünf Zaunlöcher klettern, um fünf Gemüsegärten biegen, zwei unbebaute Gelände überqueren und zu allerletzt über die Schulmauer springen..
In die Strassen geriet ich selten. Hier fuhr man, hier trug man Fahnen oder Särge. Man hatte sogar bisweilen den Eindruck, dass, wenn die Löcher und Spalten in den Zäunen breiter gewesen wären, auch manche Trauerzüge durch sie verlaufen wären, um den Verstorbenen, welche die Strassen gemieden hatten, Respekt zu bezeugen.
Hunderte von schmalen Pfaden beschrieben Kurven durch die verwilderten Parks, um die dunklen, mit dichter Entengrütze bedeckten Teiche, verschwanden in Bachschluchten, erstiegen Hügel, von deren Höhe sich weite Landschaften boten mit Kirchen ohne Kreuze und Überresten alter Gutshöfe.
Hier, hinter den Zäunen, lebten Schieber, Kartenspieler, Säufer, Invaliden - all diejenigen, die auf den Straßen nichts zu suchen hatten. Hier gab es blutige Kämpfe, hier wurde beim Kartenspiel auf Menschenleben gesetzt, hier erzählten die ehemaligen Soldaten uns, den Halbwüchsigen, in allen einzelheiten, von ihren Siegen über Polinnen und Deutsche.
Wir stießen auf verträumte Mädchen mit einem Buch in der Hand, auf einsame Alte, auf Familienpicknicks, auf nackte Pärchen, auf allerlei Sonderlinge und hausgemachte Philosophen. Hier konnte man Waren kaufen, die in den Geschäften nicht zu bekommen waren, Schuhe und Fahrräder reparieren lassen, Selbstgebranntes auftreiben.
Hier, hinter den Zäunen, lebten auch merkwürdige alte Frauen, sie trugen hohe Frisuren und gingen mit aufrechter Haltung. Klaviermusik strömte aus ihren Fenstern in vernachlässigte Gärten. Sie baten uns in ihre Räume, bewirteten uns mit Tee aus kleinen grazilen Tassen, schmeichelten unseren Ohren mit französischer Sprache, redeten uns mit Vor- und Vatersnamen an, ließen uns an ihren Erinnerungen teilhaben. In ihren Zimmern fanden wir erstaunliche Gegenstände: bunte Fächer, kleine Ferngläser, Spazierstöcke, Statuetten, feine Perlmutterschachteln, bizarre Fläschchen und Puderdosen. Aus den Bildern an den Wänden schauten Männer auf uns herab, aber wir wagten es nicht, nach ihnen zu fragen...
Nach dem Schulabschluß verließ ich meine Stadt und bin nie wieder zurückgekehrt. Die Hinter- den- Zäunen-Methode der Erkenntnis der Wirklichkeit behielt ich für mein ganzes Leben. In den Städten, in denen ich lebte, waren mir Neben- und Sackgassen mehr vertraut als zentrale Plätze und Magistralen. Wenn ich auf eine Hauptstraße gestoßen war, versuchte ich so schnell wie möglich in eine Nebengasse einzubiegen. War ich diesem meinem Prinzip untreu geworden, passierten mir kuriose und unangenehme Geschichten. Das übertrug sich auch auf die Wahrnehmung einzelner Menschen und Ereignisse. Am wenigsten interessiert mich die gerade Linie des Lebens, viel interessanter sind seine Kurven, in Büchern und Gesprächen viel spannender die Abschweifungen. Ich verzeihe meinen Gesprächspartnern, wenn sie plötzlich den Satz abbrechen, weil sie meinen, daß auch so alles klar ist, oder wenn sie sich von Nebensächlichkeiten ablenken lassen. Bei dem Lesen einer Kriminalgeschichte überkommt mich immer der Wunsch, an der spannendsten Stelle haltzumachen, über den Helden etwas Zweitrangiges, etwas Unverbindliches zu erfahren. Da das aber nach den Gesetzen des Genres unzulässig ist, lese ich keine Krimis.